Mid90s
Jonah Hill, USA, 2018o
Stevie ist 13 und wächst Mitte der 90er Jahre in Los Angeles mit seiner Mutter und grossem Bruder in einer zerrütteten Mittelschichtsfamilie auf. Mit Hip-Hop-Musik und besonders dadurch, dass er sich einer Gruppe von Skatern anschliesst – in der er sich aber erst noch beweisen muss – findet er langsam aus seiner Verunsicherung und zu einer eigenen Identität.
Diese Coming-of-Age-Geschichte lässt zugleich mit grosser Liebe zum Detail, die Zeit vor dem Millenniumswechsel in Musik und Dekor wieder aufleben.
Ein schöner, zurückhaltender, fast keuscher Film. Das Skaten, das für nächstes Jahr als olympische Disziplin zugelassen ist, war in den Neunzigern, daran erinnert Hill ausdrücklich, noch stark diskreditiert und verachtet, und sein Film zeigt, wie es sich mit dem Hip-Hop zusammen allmählich entwickelt hat. (Auszug)
Fritz GöttlerSi le sujet de 90s est archi-balisé, ce premier long-métrage se démarque par son absence de pathos et d'angélisme. Tout y sonne juste, authentique, avec son lot de discussions à l'emporte-pièce sur le sexe, la famille, le skate, où c'est à qui sortira la meilleure vanne ou aura le dernier mot.
Christophe CarrièreLe film aura finalement trouvé son ton, dans une vraie condensation, rendant à leur densité première les moments essentiels où un jeune garçon a transcendé son complexe d’infériorité pour en extraire une véritable poétique de petit homme.
Joachim LepastierGalerieo
Das Regiedebüt des Schauspielers Jonah Hill ist eine Ode ans Skaten. Er reflektiert in Mid90s seine Jugendzeit.
Abenddämmerung, die Helden sind müde geworden. Ein paar Kids schlingern in der Mitte der Strasse auf ihren Skateboards, links und rechts ziehen Autos vorbei, die die Erwachsenen von der Arbeit nach Hause bringen, die mittlere Spur ist für die Skater reserviert. Das sind die Aussichten für diese Kids: Sie sind mitten im Leben dabei, aber immer abseits, für sich.
Auch Stevie (Sunny Suljic), 13 Jahre alt, will nicht länger vom Rand her zuschauen, will mitmachen beim Skaten. Will die Anerkennung der Street Kids von Los Angeles erringen, ihre Freundschaft. Will mit ihnen das Terrain zum Üben und zum Demonstrieren ihrer Kunst verteidigen, gegen das Geschimpfe der Ladenbesitzer oder der Wächter, die böse zetern, wenn die Kids eingezäunte Plätze nicht räumen wollen.
Fuckshit wird einer von Stevies neuen Freunden genannt – weil er ständig die beiden Wörter verwendet – und Fourth Grade ein anderer – weil er nicht weiter wirkt als ein Viertklässler –, und Stevie heisst bald Sunburn. Die Jungs rauchen und nehmen Drogen, verwenden Ausdrücke wie nigger oder bitches oder faggot. Es ist eine Welt für sich, unter der rauen Oberfläche spürt man gewaltige Sensibilität. Wenn Stevie abends nach Hause geht, wechselt er das verrauchte Hemd.
Lange lebt er in zwei völlig verschiedenen Welten, zu Hause und auf der Strasse. Das Zimmer von seinem grossen Bruder Ian (Lucas Hedges) ist off limits für ihn, es ist ihm strikt untersagt, es zu betreten, also stiehlt sich Stevie hinein, sobald der Bruder das Haus verlässt. Es ist, anders als viele Teenagerhöhlen, unglaublich aufgeräumt, sauber geklebte Bilder an der Wand, alles hat seinen Platz, die CDs und die DVDs. Ein Raum der Andacht.
Schauspieler hinter der Kamera
Jonah Hill, Jahrgang 1983, wurde in Hollywood sozialisiert. In der Truppe des ruppigen Komödienmeisters Judd Apatow («Knocked Up») lernte er, bürgerliche Normen ad absurdum zu führen. Das erledigte er dann mit grösster Hingabe als «Bad Sitter» im Film von David Gordon Green oder als Kumpan von Leonardo DiCaprio, dem «Wolf of Wall Street» für Martin Scorsese. Bei «21 Jump Street» und «22 Jump Street» war Hill auch am Drehbuch mitbeteiligt. In «Mid90s», seinem ersten Film als Regisseur, reflektiert er seine eigene Jugend. Es ist ein schöner, zurückhaltender, fast keuscher Film.
Das Skaten, das für nächstes Jahr als olympische Disziplin zugelassen ist, war in den Neunzigern, daran erinnert Hill ausdrücklich, noch stark diskreditiert und verachtet, und sein Film zeigt, wie es sich mit dem Hip-Hop zusammen allmählich entwickelt hat. Die freche Selbstsicherheit der Skater hat eine lange Tradition, die zurückreicht bis zu den Strassenjungen in den Romanen von Charles Dickens oder Victor Hugo.
Skaten als Nebensache
Wer nicht viel zu verlieren hat, ist frei in seinem Handeln. Man glaubt immer, sein eigenes Leben sei beschissen, meint Stevies neuer Freund Ray, verkörpert vom klasse Skater Na-Kel Smith, aber dann würde man doch mit keinem anderen tauschen wollen. Jonah Hill ist ein liebevoller Beobachter, er macht aus der Lässigkeit, der Trägheit eine kreative Tugend. Er ist kein Moralist. Das Skaten ist keine wirklich dynamische, mitreissende Kunst in diesem Film, eher Stückwerk, lauter singuläre Stunts, die sich nicht zur grossen Bewegung vereinen und von Einsamkeit zeugen.
Jonah Hill kennt man als Komiker, jetzt hat er mit «Mid90s» einen feinfühligen Film über Jugendliche inszeniert.
Zuerst war er der Underdog in zahlreichen Komödien, zum Beispiel der dicke Junge in «Superbad». Dann wechselte er ins sogenannt seriöse Fach, spielte für Regisseure wie Martin Scorsese (in «The Wolf of Wall Street»), seine Partner waren Leonardo DiCaprio und Brad Pitt. Jetzt aber sitzt Jonah Hill, 35, in einem Berliner Hotel und sagt: «Ach, die Schauspielerei war eher ein Unfall. Ich wollte immer Regisseur werden.»
Das ist ihm gelungen. Sein Regiedebüt heisst «Mid90s», ist weder eine schrille Komödie noch ein ausgeprägter Schauspielerfilm mit Stars. Im Gegenteil. Es ist ein fein beobachtetes Drama um einen Dreizehnjährigen, der in Los Angeles auch ein so cooles Skateboard haben möchte wie die älteren Jungs in der Nachbarschaft. Es geht um das Skaten als Lebensgefühl, um das Zugehören zu einer Gruppe und um das Ausbrechen aus der Welt der Eltern – oder hier der Mutter und des strengen Bruders.
Premiere von «Mid90s» war im letzten September in Toronto, der Film bekam hervorragende Kritiken. Und der Regisseur muss seitdem immer wieder erklären, wie er zum Thema kam. «Alles ist autobiografisch», lautet die Kurzfassung der Antwort. Dann sind also Sie dieser Junge, der im Zentrum steht? «Sicher bin ich Stevie, der unbedingt dazugehören will», antwortet Jonah Hill. «Aber ich bin auch der Star der Gruppe, der die Skater-Kunststücke beherrscht wie kein anderer. Ich bin der Ungeschickte, der immer auf die Schnauze fällt. Ich bin die Mutter. Ich stecke in allen Figuren.»
Die Schausspielerei bezeichneter als «glücklichen Unfall»
Alle und niemand, eine praktische Antwort. Wahr ist: Hill wuchs in den 90er-Jahren in Los Angeles auf. Er war fett, ein Aussenseiter. Und er ist Skateboard gefahren, wodurch er etwas Anschluss fand. «Ich war allerdings ein schlechter Skater», erzählt er. Dann skaten Sie nicht mehr? «Wo denken Sie hin, ich habe mein Board immer dabei, gestern habe ich mir fahrend Berlin angeschaut.» So schlecht können Sie in diesem Fall nicht sein? «Ich komme klar. Aber zu den Besten gehöre ich nicht.»
Die Besten. Das ist das Stichwort. Mit weniger gibt sich Jonah Hill nicht zufrieden. Er kam schon als Kind mit dem Showbiz in Berührung, seine Mutter war Kostümbildnerin, sein Vater Roadmanager von Guns N’ Roses. Als Schauspieler engagierte sich Jonah stets mit dem ganzen Körper, wortwörtlich, nahm mehrmals drastisch zu und wieder ab, wenn es die Rolle vorsah. Auf dem Set spielte er nicht nur, sondern beobachtete, wie die Regisseure – er arbeitete auch für die Coen-Brüder, Tarantino, Gus Van Sant – ihre Sache angingen. «Ich meine es ernst, wenn ich sage, dass meine Schauspielerei ein Unfall war. Ein glücklicher allerdings», ergänzt er, «das war in gewisser Hinsicht meine Filmschule, ich habe auch in schlechteren Filmen immer etwas gelernt. Deshalb wusste ich, dass ich es kann.»
Diese Zuversicht strahlt auch auf die Mitwirkenden in «Mid90s» aus. Profis sind nur Lucas Hedges (der Bruder) und Katherine Waterston (die Mutter). Den Rest rekrutierte Hill in den Skateparks. Es sind Jungs, die gut fahren können, darunter der in diesen Kreisen bekannte Na-Kel Smith. Erstaunlich aber, dass dieser nicht nur Kunststücke präsentiert. Sondern in einer Schlüsselstelle einen Monolog hält, der leicht lächerlich wirken könnte. Wie er ihn vorträgt, wirkt aber echt und berührend: «Er ist einfach ein Naturtalent», sagt Jonah Hill. Und: «Nun gut, vielleicht habe ich ihm auch ein paar Tricks beigebracht. So wie er mir auf dem Board.»
Er arbeitete vier Jahre am Traum, diesen Film zu drehen
Der Trumpf des Films ist, dassalles perfekt aufeinander abgestimmt ist: Der Look mit der in den 1990ern begehrten Fischaugoptik, die entsprechenden Songs von A Tribe Called Quest bis zu den Pixies mit einem zusätzlichen Soundtrack von Trent Reznor (Nine Inch Nails) und Atticus Ross. Und auch die Örtlichkeiten: «Wir haben uns Mühe gegeben, den Park vor dem Gerichtsgebäude, wo wir uns einst versammelt hatten, wieder so aussehen zu lassen wie damals», sagt Jonah Hill. Er wollte nichts dem Zufall überlassen. Und arbeitete vier Jahre lang am Drehbuch und am Traum, diesen Film zu drehen.
Das ist ihm bestens gelungen. Nur mit einem Kompliment hat er Mühe. Mehrmals wurde «Mid90s» als «männliche Version von ‹Lady Bird›» beschrieben, dem ersten Film der Schauspielerin Greta Gerwig, der es als Independent-Hit bis an die Oscars brachte. «Ich mag ‹Lady Bird› sehr, meine Schwester spielt darin mit, aber ich denke schon, dass ich etwas Eigenständiges realisiert habe», sagt Jonah Hill. Er arbeitet längst an einem weiteren Regieprojekt, will aber nicht sagen, um was es geht.
Oder doch? Ganz am Ende des Interviews macht der Ex-Komiker doch noch einen Witz: «Mein nächster Film wird die männliche Version von dem sein, was dann gerade gross herausgekommen sein wird.»