Lee
Ellen Kuras, GB, USA, 2023o
Das ehemalige Fotomodell Lee Miller ist es leid, Objekt ihrer männlichen Kollegen zu sein und konzentriert sich auf ihre eigene Arbeit als Fotografin. Mitten im Krieg geht sie als Fotoreporterin an die Front nach Frankreich und dokumentiert gemeinsam mit ihrem Kollegen David E. Scherman über Monate die Schrecken des Zweiten Weltkriegs. Sie gehören zu den ersten Fotografen, die bei der Befreiung der Lager von Buchenwald und Dachau dabei sind. Lees Bilder werden zu den stärksten Zeugnissen jener entsetzlichen Verbrechen und brennen sich in die Geschichte ein – aber lassen auch Miller selbst bis an ihr Lebensende nicht mehr los …
Der biographische Spielfilm entwickelt sich zunehmend zu einem feministischen Genre. Die Figur von Lee Miller (1907-1977), einer Amerikanerin, die in den 1920er Jahren in Paris zum Model und zur Muse des Surrealisten Man Ray wurde, bevor sie sich vor allem während des Zweiten Weltkriegs als talentierte Fotografin entpuppte, konnte sich dieser Art von Behandlung kaum entziehen. Unter der Federführung der Produzentin und Darstellerin Kate Winslet und der Kamerafrau und bisherigen Serien-Regisseurin Ellen Kuras, ist daraus zum Glück ein überzeugender Film geworden, der von einer wenig bekannten Geschichte profitiert. Wir treffen auf eine Lee Miller in der Mitte ihres Lebens, eine freie, aber auch ziemlich desillusionierte Frau, die ihr Gefühlsleben durch die Heirat mit dem englischen Künstler Richard Penrose in Ordnung bringt und es schafft, sich bei der britischen Vogue zu etablieren. Dank der Tatsache, dass sie Amerikanerin ist, gelingt es ihr, in das sehr männliche Milieu der Kriegsfotografen aufgenommen zu werden. Zu diesem Zeitpunkt war ihr allerdings noch nicht klar, was sie das kosten würde. Der Film muss zuerst die Klippen einer Rückblendenstruktur (über ein spätes Interview) hinter sich lassen, zudem einige künstlich anmutende Expositionsszenen mit Marion Cotillard und Noémie Merlant als Luxus-Statistinnen. In der grossartigen Verkörperung der Titelfigur durch Kate Winslet findet er aber seine Verankerung. Von der Befreiung von Paris über die Badewanne des Führers in München bis zur Entdeckung der Lager Buchenwald und Dachau verläuft die Reise von Lee Miller eindrücklich. Und auch wenn die Vorfälle mit feministischem Drall leicht überbetont werden, begreift man nach und nach die Relevanz dieses Aspekts im Zusammenhang der globalen Katastrophe. Am Ende findet sogar das „Gimmick“ des Interviews eine einleuchtende Begründung.
Norbert Creutz