Wolkenbruch
Michael Steiner, Schweiz, 2018o
Bislang hat Motti immer brav getan, was seine jüdisch-orthodoxe Mame ihm vorschreibt. Bärtig und unauffällig gekleidet arbeitet der beflissene Student der Zürcher Universität nebenbei im väterlichen Unternehmen. Als die Mutter Ihren Sohn verkuppeln will, weicht Motti vom traditionellen Pfad ab. Er verliebt sich in Laura, die nicht jüdisch ist – eine «Schickse».
Michael Steiner («Sennentuntschi») hat Thomas Meyers Entwicklungsroman überraschend zurückhaltend adaptiert. Er fängt das jüdische Zürich liebevoll ein, und Joel Basman schauen wir bei der Emanzipation gerne zu.
Andreas ScheinerVoilà un film suisse qui fait plaisir à voir. Evidemment, on y joue de mille caricatures qui ne manquent pas néanmoins de refléter une part importante de réalité. Outre la tenue vestimentaire, il faut encore ajouter que le père de Motti gère une assurance privée, et que sa mère est plus qu’autoritaire: elle est affectueusement tyrannique. Avec ses petites lunettes, sa barbe rousse et sa discrétion excessive, Motti a tout du jeune Yiddish. Cela n’empêche pas la comédie d’être réussie.
Loris MusumeciGalerieo
Am Donnerstag startet die Bestsellerverfilmung Wolkenbruch – und gleich darauf vier weitere Schweizer Filme.
So läuft das. Plötzlich sieht der junge Mordechai Wolkenbruch – genannt Motti – sein ganzes Leben im Zeitraffer vor sich, so wie es seit Generationen war und seine Eltern es auch für ihn vorgesehen haben. Anständiger Beruf, schnell, schnell, Hochzeit, schnell, schnell, Kinder, Grosskinder, schnell, und schon liegt man im Grab. «Das kann es doch nicht gewesen sein», kommentiert der Verstorbene noch aus dem Sarg. Davon handelt dieser neue Schweizer Film.
Wolkenbruch ist die Verfilmung des Romans von Thomas Meyer, der Zürcher Autor hat auch das Drehbuch geschrieben. Es ist die erste Kinoarbeit von Sennentuntschi-Regisseur Michael Steiner seit seinem desaströsen Missen Massaker vor sechs Jahren. Und es ist die grosse Hoffnung des einheimischen Schaffens auf einen Kassenschlager im Jahr 2018. Die Frage ist nur: Ist der Film nicht zu nett dafür?
Nett ist nun wirklich kein Attribut, das man dem Werk von Michael Steiner leichtfertig anhängen kann. In Sennentuntschi sprengte der Regisseur lustvoll die Grenzen des Horrorfilms, in Grounding brachte er Schlagzeilen – das Swissair-Ende – aktuell auf die Leinwand. Und selbst im Kinderfilm Mein Name ist Eugen rettete er den ziemlich verstaubten Humor der Vorlage zeitgemäss fürs Kino. Richtiger Lausbub, eben.
Ein Lausbub, den man gleich ins Herz schliesst, ist der von Joel Basman gespielte Motti auch. Doch viel davon ist versteckt hinter den jüdisch-orthodoxen Gepflogenheiten und Bräuchen, von denen Gesichtshaar und Einheitsbrille nur äussere Zeichen sind. Beides ist am Ende weg, und Motti wird seinen Weg gehen. Begleiten wird ihn vielleicht eine Studentin (eben die Schickse), vielleicht auch nicht. Die Liebesgeschichte bleibt in der Schwebe, das Filmende unterscheidet sich von dem der Romanvorlage. Motti aber hat sich so oder so gefunden. Alles ist locker erzählt, nicht zu seicht, nicht zu anspruchsvoll. Das ist der Stoff, aus dem Filmhits sind.
Schweizer Filmschaffende überzeugten an Festivals
Einen solchen hat es im Schweizer Kinojahr 2018 noch nicht gegeben. Di chli Häx erreichte zwar respektable 120'000 Zuschauerinnen und Zuschauer, gilt aber statistisch als deutsche Produktion mit CH-Minderheitsbeteiligung. Die anderen Schweizer Erfolge in der Pro-Cinema-Kinostatistik starteten bereits letztes Jahr: Papa Moll (141'647 Eintritte) und Rolf Lyssys Die letzte Pointe (114'213 Eintritte). Man muss noch weiter zurückgehen, um auf Hits wie Die göttliche Ordnung (Anfang 2017: 352'244 Eintritte) und Schellen-Ursli (2015: 455'348 Eintritte) zu stossen.
Eintrittszahlen sind nicht alles, das ist klar. Und auf den renommierten Festivals hat das Schweizer Filmschaffen 2018 durchaus Spuren hinterlassen. Das begann im Februar an der Berlinale, wo das Berg-Flüchtlingsdrama Fortuna in der Jugendsektion lief und zwei Preise einheimste. In die Kritikerwoche von Cannes schaffte es gar der phänomenale Chris the Swiss von Anja Kofmel, eine Spurensuche im Jugoslawienkrieg mit Dokumentar- und Trickfilmszenen. Und in der prestigeträchtigen «Platform»-Sektion des Festivals von Toronto (sowie im Wettbewerb von San Sebastian) lief Der Unschuldige, bestimmt der ungewöhnlichste Film des Jahres. Im Kino aber haben es diese Filme nicht einfach, wie der im September gestartete Chris the Swiss zeigt, der da und dort noch läuft, aber Mühe hat, auf Zahlen zu kommen (bis jetzt 4372 Eintritte).
Ist das die berühmte Schere: hier die Filme fürs grosse Publikum, dort diejenigen für Cineasten und Festivaliers? Einen Versuch, den Spagat zu schaffen, unternahmen die Macher von Der Läufer. Mit einer bewundernswerten Kampagne gelang es ihnen, das sperrige und nicht in allen Teilen gelungene Drama um einen mordenden Waffenläufer zum Gesprächsthema zu machen. Plötzlich ging es um #MeToo und Männergewalt. In der ersten Woche hatte der Film so, wie der Filmverleih stolz meldete, in der Stadt Bern mehr Publikum als das Oscar-Vehikel A Star is Born.
Auch Filme brauchen ein Schlagwort
Das Beispiel zeigt: Mit der Fertigstellung des Films ist es längst nicht getan. Es bleibt eine Riesenarbeit, den Kinostart zu begleiten, und auch das bringt nicht immer den gewünschten Erfolg. Bei Filmen wie Zone rouge von Cihan Inan, der kein auf einen einfachen Punkt herunterzubrechendes Verkaufsargument hat, wird es noch schwieriger, dieses nächtliche Kammerspiel droht unterzugehen. Und auch beim in Locarno auf zwiespältiges Echo gestossenen Inzestdrama Glaubenberg von Thomas Imbach sind die Aussichten wenig rosig.
Mit dem Wolkenbruch ist es einfacher, das Vorgehen schon fast klassisch: bekannte Vorlage, sympathische Darsteller, die man kennt, Samstagabend-Galapremiere am heimischen Zurich Film Festival, Kinostart wenig später. Was kann da noch schiefgehen, ausser dass ein Kritiker dem Film etwas «Nettigkeit» vorwirft?
Nun, das Argument stammt aus dem Film selbst. «Ich will nicht niedlich sein», sagt die Schickse in einer Szene, sie will sich ihre Ecken und Kanten bewahren. Im Wolkenbruch aber wirkt einiges abgeschliffen, die Liebesgeschichte plätschert vor sich hin, lange Zeit verliert man sie sogar aus den Augen. Am Ende ist sie einem egal, obwohl man natürlich dem Motti sein Glück gönnen möchte.
Den Charme des Films macht tatsächlich der Clash zwischen dem orthodoxen Milieu und der modernen Welt aus. Hier sind die Filmschaffenden konsequent geblieben: Es gab ganze jiddische Dialogpassagen, die nicht untertitelt waren, man aber– oh Wunder – bald bestens verstand. Vergangene Woche aber wurde dieser Entscheid doch noch umgeschmissen, es gibt jetzt Untertitel.
Trotzdem: Masel tov, lieber Motti.