Lion
Garth Davis, GB, USA, Australien, 2016o
Der fünfjährige Saroo ist aus Versehen in Kalkutta gestrandet und landet schließlich in einem Waisenhaus. Dort wird er von Sue und John Brierley adoptiert, die ihm ein liebevolles Zuhause in Australien schenken. Viele Jahre später führt Saroo in Melbourne ein äußerlich glückliches Leben, doch die Frage nach seiner Herkunft lässt ihn nicht los. Nacht für Nacht sucht er im Internet nach Hinweisen auf seinen früheren Wohnort und seine leibliche Familie, bis er schließlich auf die Karte eines Dorfes stößt, das seiner Erinnerung entspricht.
Ein junger Mann, zerrissen zwischen zwei Heimaten. Als kleiner Bub wurde er versehentlich von seiner Familie in Indien getrennt, landete in Kalkutta, kam ins Kinderheim, wurde von einem australischen Ehepaar adoptiert, er fängt ein Studium an, aber die Erinnerungen an die andere Mutter und den Bruder quälen ihn. Also macht er sich, Google hilf, auf die Suche. Dev Patel und Nicole Kidman sind ein schönes Paar im Film von Garth Davis.
Fritz GöttlerIndien ist von kontinentalem Ausmass – so gross, dass man sich selbst auf einer Karte kaum orientieren kann. Diese Erfahrung muss auch Saroo (Sunny Pawar) machen, als er sich mithilfe von Google Earth auf die Suche nach seinem Heimatdorf begibt. Als Kind schläft er eines Nachts in einem Zug ein, wacht in Kalkutta auf – hat alles verloren, seine Mutter, sein Zuhause. Er landet bei den australischen Pflegeeltern Sue (Nicole Kidman) und John Brierley (David Wenham), die sich seiner zwar rührend annehmen. Doch das Rätsel um die eigene Geschichte bleibt. Garth Davis' Film «Lion» erzählt diese wahre Geschichte mit viel Zugewandtheit und Anteilnahme, die jedoch mitunter in epische Sentimentalität zu kippen droht. Was bleibt, ist das herzenswarme Porträt eines Mannes, der mühevoll zu seinen eigenen Wurzel zurückfindet.
Björn HayerDavis’ Film [...] zerfällt in einen indischen und einen australischen Teil, wobei der australische durch Traum- und Albtraumbilder aus dem indischen verstörend, aber heilsam infiziert wird. [...] Und wenn es dramatisch so weit ist, haben wir erst einmal eine Geschichte gesehen, die das indische Elend heftig kolorierte, aber dennoch in Watte packte. [...] [A]lles schien einem in diesem Film einem übergeordneten Willen zu dienen: dem ständigen und starken Drücken, um nicht zu sagen Auspressen der Tränendrüsen. (Auszug)
Christoph SchneiderEin in Australien aufgewachsener junger Mann erinnert sich seiner verdrängten Kindheit in einer Kleinstadt im Nordwesten Indiens, aus der ihn ein tragisches Schicksal zunächst in ein Waisenhaus in Kalkutta und von dort in die Obhut seiner Adoptiveltern geführt hat. Nach dem autobiografischen Roman von Saroo Brierley schildert der Film zunächst mit großer erzählerischer Wucht und emotionaler Kraft Herkunft und Trauma des Jungen, springt in der zweiten Hälfte dann aber in eine behütet-bürgerliche Welt als Background der detektivischen Spurensuche via Google Earth. Die Sehnsucht nach der verlorenen Heimat entpuppt sich dabei als Suche nach der eigenen Identität.
N.N.Ce fabuleux film embarque le spectateur d'emblée grâce au sourire de l'adorable petit Saroo et surtout au terrible événement qui fait basculer sa vie. On souffre avec lui avant de se passionner pour son odyssée et sa quête.
Catherine BalleCe balancement entre malheur et bonheur poursuit l'enfant devenu un homme et, à chaque époque, le portrait de Saroo convainc, grâce à deux acteurs inspirés. C'est l'essentiel.
Frédéric StraussGalerieo
Nicole Kidman spielt in «Lion» die Adoptivmutter eines Strassenkindes aus Indien, das später herausfinden will, wo es herkam.
Der Film mit seinen feinen Möglichkeiten, sprunghaft zu sein, ist ja ein tolles Medium, um Figuren durch die Welt zu treiben: von einer Kultur in die andere und von dieser anderen wieder zurück in jene eine und durch die Labyrinthe dazwischen, in denen sich Seelen verirren können. Man lernt oft sehr viel, geografisch und psychologisch; man sieht Menschen sich verlieren und wie sie nach sich selber suchen und wie sie sich wiederfinden und dann erst sich selber wirklich erkennen, in den besten Fällen.
Der australische Spielfilm «Lion» von Garth Davis, mit dem gestern das 12. Zurich Film Festival eröffnet worden ist, öffnet uns grosszügig (und mit manch grosser Totale-Geste) zwei Welten – eine indische, eine australische und die Zeit- und Erinnerungsräume zwischen den beiden. Er handelt davon, wie diese Weltgewichte auf dem Jungen Saroo (Sunny Pawar) lasten, der eine Heimat verliert und eine andere gewinnt. Und wäre das nicht so gewesen, hätte er die Kindheit wahrscheinlich nicht überlebt, aber als junger Mann (Dev Patel) spürt ers einfach plötzlich, dass sein Lebensgefühl kein heimatliches Zentrum hat, sondern dort, wo es psychisch drauf ankäme, nur ein heimatloses Loch.
Davis’ Film – nach dem autobiografischen Bericht «A Long Way Home» des indischstämmigen Australiers Saroo Brierley (also «wahr», soweit Kino wahr sein kann) – zerfällt in einen indischen und einen australischen Teil, wobei der australische durch Traum- und Albtraumbilder aus dem indischen verstörend, aber heilsam infiziert wird.
Das Indische rumort in ihm
Dieser indische Teil erzählt vom fünfjährigen Saroo, den es – die Umstände sind etwas mysteriös, aber filmisch sehr anrührend – mutterseelenallein nach Kalkutta verschlägt aus der Tiefe der indischen Provinz. Dort im Gewühl, mit nichts als seinen Lumpen am Leib, ein Strassenkind unter Strassenkindern, helfen ihm eine früh ausgebildete Überlebensschläue und eine feine Witterung für Gefahren. Es wirkt in Saroo die Anpassungsfähigkeit des Kindes, und als die Brierleys, ein Ehepaar aus Tasmanien (Nicole Kidman und David Wenham), ihn schliesslich adoptieren, trägt er zwar noch das Bild seiner indischen Familie in sich, schickt sich aber in ein Leben, das Zukunft verspricht.
Und wenn es dramatisch so weit ist, haben wir erst einmal eine Geschichte gesehen, die das indische Elend heftig kolorierte, aber dennoch in Watte packte. Der Dreck hatte etwas fast Idyllisches und die immer drohende Gefahr quasi etwas Ungefährliches. Ausserdem war es grad so, wie der Dichter von der Armut im sentimentalen Film sagt: Das Hungertuch, an dem jemand nagte, sättigte doch ausreichend.
Der australische Teil deckt die zwanzig Jahre ab zwischen Saroos Ankunft und seinem plötzlichen (aber vermutlich eben immer nur verdrängten) Drang, zu wissen, woher er kam – denn Kalkutta, der offizielle Geburtsort, wars nicht, das sagen ihm seine Erinnerungsblitzlichter. In der Zeit wurde Google Earth erfunden, und der suchende Saroo, in dem nun das Indische sehr rumort, gerät in eine Art Recherchehysterie.
Es war in diesem Part des Films nun einerseits von erlebtem Lebensglück zu erzählen und andererseits von den Neurosen, die daraus entstanden, und Garth Davis erzählt es mit ausführlichster Melodramatik. Auch Saroos Adoptivmutter bekommt einen realen Leidenshintergrund (allerdings nimmt man Nicole Kidman eine Bodenständigkeit in Freud und Leid nicht recht ab – zu viel unmaskierbare Alabasterschönheit).
Indien und Australien fanden sich dann dank einer wahrhaftigen Erleuchtung. Im Übrigen war da auch eine junge Liebe, der man immer alles Gute wünschte. Und alles schien einem in diesem Film einem übergeordneten Willen zu dienen: dem ständigen und starken Drücken, um nicht zu sagen Auspressen der Tränendrüsen.