In die Sonne schauen
Mascha Schilinski, Deutschland, 2025o
Vier Frauen aus den 1910er, 1940er, 1980er und 2020er Jahren erleben Kindheit, Jugend und das Älterwerden auf einem abgeschiedenen deutschen Hof. Während sie ihre eigene Gegenwart durchstreifen, offenbaren sich ihnen Spuren der Vergangenheit, die in den Räumen und Wänden des Hofes und in der Natur unmittelbar präsent ist. Als sich ein tragisches Ereignis wiederholt, verflechten sich die Lebensläufe zwischen Vergangenheit und Gegenwart bis zur Ununterscheidbarkeit.
Die kleine Alma entdeckt auf einer alten Fotografie ihre lang vor ihrer Geburt verstorbene Schwester und erfährt, dass diese auch schon Alma hiess. Später wird Almas grosse Schwester Lia, ebenfalls als Tote, neben den Eltern auf dem Sofa sitzend abgelichtet: eine gestellte Erinnerung, die auszublenden versucht, dass (und warum) Lia sich das Leben genommen hat. Rund hundert Jahre später erinnert sich Lenka an den Blick des Freundes ihrer Eltern, als sie in frühpubertärer Unschuld beim Planschen mit den anderen Kindern ihr T-Shirt auszog, «als ob ich mit ihm ein Geheimnis teile, das ich gar nicht teilen möchte». Mascha Schilinskis Filmbilder teilen Geheimnisse, die sich unseren eigenen Déjà vus auf unerwartete Weise angleichen. Der Sog dieser Idee hat sich in den Film eingeschrieben. In die Sonne schauen folgt einer Traumlogik der Szenen und Bilder, assoziativ und spiegelnd, störrisch, erschreckend und oft sehr düster. Aber gerade darum zwingend und packend über zweieinhalb Stunden hinweg. Der Film spielt über vier verschränkte Zeiträume hinweg im gleichen Gehöft in der ostdeutschen Altmark: Vier Mädchen oder junge Frauen erleben ihre jeweilige Umgebung und Familie, mit Glück und Elend, Tod und Arbeit in den 1910er, 1940er, 1980er Jahren beziehungsweise in der Gegenwart. Ein Film über Erinnerungen, eigene, fremde, vergangene, zukünftige, angeeignete, aufgezwungene. Und damit sind nicht einfach Bilder für die Augen gemeint. Mascha Schilinski erzeugt körperliche Erinnerungen, überlagert sie, lässt sie auf- und abtauchen: Déjà-vu als umfassendes, traumsicheres Konzept. Ein einzigartiges Kinoerlebnis, das sich, seinem Titel wie einem gefährlichen Lockruf folgend, in Augen und Herz einbrennt, weil es eh schon da ist, immer schon war.
Michael SennhauserGalerieo






